Bergwandern in Innichen / Südtirol - 1997
Dialog zwischen Judith, blind in Kursiv und Verena, sehend, in
Normalschrift:
... wir sind schon viel zu lange hier ... - das ist ein Ausschnitt aus dem Lied
"Mein ganzes Leben sei ein Fahren", das uns die Bergwanderwoche in
Innichen begleitete und zugleich das Motto zu sein schien.
Nein, nein, gehetzt waren und wurden wir nie. Jede und jeder hatte so viel
Freiraum und Eigenständigkeit wie nur irgend möglich. Kein Zwang zu
nichts.
Den Entschluß, mich für eine Blindenfreizeit anzumelden, faßte
ich mit gemischten Gefühlen, und das bedeutete, ohne konkrete Vorstellungen
und ohne jegliche Vorahnung einen "Sprung ins kalte Wasser". Genauso
war es auch. Zu Beginn ein kleiner "Schock" vom kalten Wasser, denn
ich sah in der Runde großteils ältere Menschen als ich, die sich
zudem scheinbar alle kannten und ganz offensichtlich prächtig
verstanden.
Bald nach der Ankunft versammelten wir uns alle, um zunächst einige
grundlegende Dinge zu hören und zu organisieren. Viele Stimmen, Namen,
Gesichter, Fragen, Orte, ... und inmitten Rudi und Christl, die alles gelassen
und ruhig ordneten. Wird schon werden.
Bald stimmte mich die freundliche Atmosphäre der Gemeinschaft um, und ich
dachte nicht mehr an eine verfrühte Abreise. Bei den täglichen
Bergtouren wuchs ich über meine sportlichen Grenzen hinaus.
Abwechslungsreich, herausfordernd, anstrengend, aber wirklich
wunderschön waren sie alle.
Mir erschien es als richtiges Wunder, daß die blinden Wanderkollegen -
etwa ein Drittel der Gruppe - mal ganz abgesehen von der Konzentration und
Ausdauer, dieselben Strecken mit einer unvorstellbaren Trittsicherheit,
Sensibilität, Konzentration, unübersehbaren Freude und für mich
anfangs beängstigenden Geschwindigkeit zurücklegten.
Mal vielschartig, mal hoch hinaus, mal übers Joch, durch Schnee, am
Seil und mal im Regen. Zeit blieb auch für manch anderes: zum Anfassen von
Blumen und Steinen, zum "Köpfezusammenstecken am Morgen", wobei
wir oft oben angegebenes Lied sangen, zum Jausnen oder für so manche
Hütte mit Schmarrn und Knödelsuppe. Blieben wir irgendwo "zu
lange", so hieß es: "Wir sind schon viel zu lange hier".
Die Rucksäcke wurden gepackt und geschultert und weiter ging's.
Neben dem Ehrgeiz und der Begeisterung der Blinden am Bergsport lernte ich das
Alltagsleben eines Blinden mit den speziellen Tücken durch Judith kennen.
In der Rückschau des Tages stellte Rudi jeden Abend erneut fest, daß
wir mit der vergangenen Tour am Plafond unserer Möglichkeiten angelangt
sind. Ebenso füllten sich meine Seele und mein Körper jeden Tag aufs
Neue bis oben zum "Plafond" mit Glück - durch Ereignisse,
Gespräche und das unvermeidbare Lachen.
In dieser Woche wurden wir auf spannenden und interessanten Wegen mit
der Natur und dem Bergsport konfrontiert. Außerdem wurde uns bewußt,
daß "Menschsein" das wesentliche im Leben ist; daß wir
einander dafür Zeit schenken und Zeit lassen müssen - auch wenn es
runter vom Berg, hinein in den Alltag schon wieder schwerer
fällt!